Neues Medizintechnikverfahren aus Bremen zertifiziert
FinanzierungHydrogel für eine effektive Entfernung von Nierensteinen
Eine Weltneuheit in der Medizintechnik: Nach jahrelanger Entwicklungszeit erhielt das Bremer Startup Purenum jetzt die Zertifizierung für ihr Medizinprodukt – das ohne den Durchhaltewillen der Gründer beinahe gescheitert wäre.
Der Schmerz kommt plötzlich, sticht heftig, in Wellen, häufig in der unteren Körperhälfte. Manchmal bis zur Übelkeit und zum Erbrechen. Minuten- bis stundenlang. Nierensteine gehören zu den schmerzhaftesten medizinischen Leiden.
Werden die Steine zu groß, kann der Körper sie nicht mehr auf natürlichem Wege ausscheiden und sie müssen operativ entfernt werden. Bis zu 100.000 Nierenstein-Operationen führen Ärztinnen und Ärzte jährlich in Deutschland durch.
Mit Gewalt den Steinen zu Leibe rücken
Nach der OP geht das Leiden häufig weiter: Bei der Hälfte der Patientinnen und Patienten bilden sich erneut Nierensteine. Forscherinnen und Forscher vermuten, dass das an sogenannten Nierensteinfragmenten liegen könnte, die bei der Operation im Organ zurückbleiben.
Nierenstein-OPs werden überwiegend endoskopisch durchgeführt. Der für eine natürliche Passage zu große Nierenstein wird dabei per Laser zertrümmert – und seine Einzelteile durch die Harnwege mittels eines Greifwerkzeugs entfernt. Trümmer, die kleiner als ein Millimeter sind, kann das Werkzeug nicht fassen. Sie bleiben oft zurück und können, so die aktuellen klinischen Hinweise, zu Kristallisationskeimen für neue Nierensteine werden. Ein Teufelskreis.
Durchbruch in der Urologie
Ein Bremer Team aus dem Biologen Ingo Grunwald und dem Ingenieur Manfred Peschka hat eine Methode gefunden, auch kleinste Fragmente aus der Niere zu entfernen. Sie bauen dabei auf ein Hydrogel mit ungewöhnlichen Eigenschaften: „Aus zwei dünnflüssigen Komponenten bildet sich – auch unter Wasser – ein belastbares Gel. Dieses Hydrogel haftet weder am Nierengewebe noch an den Instrumenten. Wir sprechen von selektiver Adhäsion. Nur so ist es möglich, den Hydrogel-Nierenstein-Mix ohne Schäden an der Niere zu entfernen“, schildert Peschka.
Die beiden Komponenten des Hydrogels namens mediNiK werden nacheinander über einen Katheter appliziert, welcher in den Arbeitskanal des Endoskops eingeführt wird. Es umschließt auch kleinste Bruchstücke und bildet wenige Sekunden nach der Applikation der zweiten Komponente ein Gel. Dieses Gel ist stabil genug, um einerseits die Bruchstücke im Inneren zu halten und andererseits von einem Greifinstrument sicher gegriffen werden zu können. Auf diese Weise können auch kleine und kleinste Nierensteinfragmente aus der Niere entfernt werden. Ein wenig so, als würde man Kekskrümel mit einem Streifen Tesafilm auflesen.
Medizintechnik-Forschung aus Bremen
Der Durchbruch kommt nicht von ungefähr. Grunwald forscht seit mehr als einem Jahrzehnt im Bereich der biomimetischen Klebstoffe und Hydrogele am Bremer Fraunhofer Institut für Fertigungstechnik und Materialforschung IFAM, hat Fachbücher zum Thema verfasst. Und Peschka kennt sich als Maschinenbauer mit der Prozesstechnik aus. Auch er arbeitete jahrelang am IFAM, wo sich beide trafen.
Das Hydrogel nahm seinen Beginn vor neun Jahren mit der Anfrage von Urologen und ersten Handversuchen zur Machbarkeit als ein kleines Forschungsprojekt. Weitergeführt wurden die Arbeiten als ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Projekt (GO-Bio „mediNiK“) innerhalb des Instituts. Als im Laufe des Projekts das Potenzial des neuen Hydrogels immer offensichtlicher wurde, entschieden sich Grunwald und Peschka, im Bremer Technologiezentrum BITZ ein Unternehmen zu gründen, um die Idee bis zur Marktreife zu bringen.
Langer Weg bis zum Marktreife
Im Juni 2021 hat Purenum nun einen wichtigen Meilenstein erreicht: Die Zertifizierung des Hydrogels als Medizinprodukt und damit die Zulassung zum Markt. Ein langer Weg; die Vorarbeiten begannen bereits 2012.
Dazwischen lagen Jahre mit Forschung, aber auch regulatorischem Aufwand. „Medizintechnik ist Hochrisikoforschung“, sagt Peschka, „die lange Zeit zwischen Idee und Marktreife zu überbrücken ist eine große Herausforderung. Wir sprechen auch vom Valley of Death.“ Viele Startups im Bereich Medizintechnik überleben das nicht.
Dazu Sebastian Stößlein, Verantwortlicher für regulatorische Angelegenheiten und seit Januar 2019 an Bord: „An die Sicherheit von Medizinprodukten werden zu Recht sehr hohe Anforderungen gestellt. Um diese erfüllen zu können, müssen mit dem eigentlich schon fertig entwickelten Produkt aufwendige Untersuchungen und Tests durchgeführt werden. Und das dauert.“
Allein der Aufbau eines Qualitätsmanagementsystems nach DIN EN ISO 13485, der „TÜV für Medizinproduktehersteller“, hat anderthalb Jahre in Anspruch genommen. Dazu kamen klinische Studien, Audits, Versuche und Übungen mit Urologen, um das neue Verfahren zu perfektionieren. „Die Erfüllung der einschlägigen Normen hat zwei Meter Akten produziert“, veranschaulicht Stößlein.
Arbeit, die nur mit einem wachsenden Team zu bewerkstelligen ist. Seit 2018 arbeiten drei Angestellte für das Unternehmen, die sich unter anderem auch um die Produktion kümmern werden.
Emotionale Achterbahnfahrt
Eine gewaltige Herausforderung, auch auf menschlicher Ebene. „Ich war mehrfach an einem Punkt, an dem ich mir die Frage gestellt habe, ob es das alles wert sei. Ich habe mir nächtelang Sorgen gemacht“, gibt Peschka zu. Der Glaube an den Erfolg der Idee, die Begeisterung für die Innovation waren es, die ihn motivierten. „Und meine Familie – die hat mir starken Rückhalt gegeben.“
Peschka ist 64 Jahre alt – strotzt aber vor juveniler Begeisterung. Es ist bereits seine dritte Gründung. „Meine Lebenserfahrung gibt mir Ruhe und Sicherheit, ich weiß, dass wir ein tolles Produkt haben, ich kann das Risiko kalkulieren.“ Nur bei der Investorensuche sei auch er zwischendurch ins Schwitzen geraten. „Das war eine emotionale Achterbahnfahrt. Mit jeder Investorenansprache vergeht wieder etwas Zeit und die zur Neige gehenden finanziellen Mittel erzeugen einen immensen Druck. Druck, mit dem man umgehen können muss“, so der leidenschaftliche Rennradfahrer. Wenn der Stress zu viel wird, schwingt er sich auf den Sattel, drückt den Ärger oder die Sorgen in die Pedale, während Kilometer um Kilometer dahinziehen.
Fit im Kopf und auf den Beinen
In einem Alter, in dem andere an die Rente und Lebensabend denken, selbst noch ein Unternehmen zu starten, ist alles andere als alltäglich. Peschka ist aber vom Seniorendasein weit entfernt. „Es kommt immer auf das Alter im Kopf an“, sagt er mit einem verschmitzten Grinsen auf den Lippen und ergänzt lachend: „Sind die Kinder aus dem Haus, hat man die Freiheit für neue Projekte!“
Das sieht sein Mitgründer Grunwald ähnlich. Er steuert mehr als 50 Jahre Lebenserfahrung bei. Der Nierenstein-Klebstoff ist für beide erst der Beginn einer Reise – für die Zukunft können sie sich vorstellen, weitere Medizinprodukte zu entwickeln. Eine erste Idee haben sie: Klebstoffe für Splitterbrüche von Knochen.
Investorenteam unterstützt Purenum bis zur Marktreife
Ohne verkaufsfähiges Produkt müssen Medizin-Start-ups wie Purenum jahrelang von Fördergeldern und Investorenmitteln leben, sowohl Personalkosten als auch Produktentwicklung und -zertifizierung stemmen. „Allein die klinische Studie hat ein siebenstelliges Budget“, verdeutlicht Grunwald, der die Forschung initiiert und zusammen mit Kollegen die chemische Zusammensetzung der Innovation erarbeitet hat.
Um die Finanzierung der aufwendigen und langwierigen Verfahren sicherzustellen, unterstützt das Starthaus das Vorhaben über das Finanzinstrument des EFRE-Beteiligungsfonds Bremen. Zudem engagieren sich der High-Tech Gründerfonds (HTGF) sowie weitere private Investoren.
Coronakrise würfelt Zeitplan durcheinander
Damit steht die Finanzierung des jungen Unternehmens auf einem soliden Fundament. Jetzt rückt der Marktstart des Produkts zudem in greifbare Nähe. Der nächste Schritt wird sein, in das Erstattungssystem der Krankenkassen aufgenommen zu werden. Der dazu erforderliche Antrag ist aktuell in der Bearbeitung. Wenn alles gut geht, kann das Hydrogel mediNiK® ab Januar 2022 bei Patient:innen eingesetzt werden. Für das Unternehmen geht es jetzt darum, den Vertrieb, die Schulung von Ärzt:innen sowie die Produktion auf die Beine zu stellen.
Dabei kam dem Team die Coronakrise sowohl in die Quere, als auch zugute: „Wir mussten eine Studie verschieben, das hat unseren Zeitplan natürlich etwas durcheinandergewürfelt. Gleichzeitig wurde durch die Krise der Beginn der neuen EU Medizinprodukte-Verordnung (MDR) verschoben. Das machte für uns die Zertifizierung einfacher“, berichtet Peschka, der in den vergangenen Monaten in seinem Unternehmen nach Möglichkeit im Home-Office arbeitete.
Als Zickzackkurs beschreibt der Ingenieur die vergangenen Jahre – aber bei seinem Elan dürften auch die letzten Herausforderungen kein Problem mehr sein.
Über die EFRE-Förderung
Das Startup wurde über den Beteiligungsfonds des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) gefördert. Mit dieser Finanzierung unterstützt die Europäische Union Investitionen und Betriebsmittel, die im Zusammenhang mit der Produktentwicklung, Markteinführung oder einer zur Realisierung eines nächsten Entwicklungsschrittes notwendigen Ausweitung des Geschäftsbetriebs stehen.
An einer Gründung interessiert? Schreiben Sie uns gern eine Mail an info@starthaus-bremen.de oder rufen Sie uns unter +49 (0)421 9600 372 an, wenn Sie Fragen zu Ihrer Gründung(sidee) haben. Wir haben die Antworten.
Erfolgsgeschichten
„Wenn ich Raketentreibstoff in einen VW-Käfer gieße, geht er kaputt“, sagt Professor Dr. Christian Horneber. Damit meint der Investment-Experte, dass Venture Capital im Vergleich der verschiedenen Finanzierungsmöglichkeiten wohl der stärkste Booster ist. Doch nicht für jedes Startup ist es geeignet.
Zum ArtikelNeighbourshrooms verbindet innovative Pilzzucht mit einer nachhaltigen Lebensweise und gesellschaftlicher Verantwortung. Was als persönliche Leidenschaft begann, ist heute ein Beispiel dafür, wie Unternehmertum, Bildung und Umweltschutz gewinnbringend zusammenarbeiten können.
Zum ArtikelWenn ein geliebtes Haustier stirbt, fühlen sich deren Besitzer oft alleingelassen mit den überwältigenden Entscheidungen und vor allem mit der tiefen Trauer um ihren langjährigen Begleiter. Helfen möchte Sonja Rennhack mit der Gründung von „Küstenbestatter – Tierabschied mit Herz“ in Bremerhaven.
Zum Artikel bei der BIS Bremerhaven